Der Aufenthalt in der Natur in Verbindung mit Stille und Einsamkeit regt intuitive Kräfte an, die uns zu einem tieferen Verständnis unserer Situation und unseres Lebens verhelfen. Sind wir in der Natur, dann erblicken wir, wohin wir auch schauen, das Leben selbst, in all seinen unzähligen Spielarten, Formen und Lebensstadien. Aus dem Boden keimt ein kleines Pflänzchen, direkt daneben verrottet ein Stück Holz, Insekten summen, Ameisen plagen sich ab, schleppen ihre Beute Schritt für Schritt nach Hause, der Wind rauscht und der Regen fällt. Dann bricht die Sonne wieder hervor. So geht es schon seit zig Jahrtausenden. Der Mensch sitzt mittendrin und weiß in seinem Leben gerade nicht weiter, verspürt aber inmitten des Geschehens eine tröstliche Gelassenheit in sich aufsteigen. Damit verbunden ist ein Gefühl der Ferne von den eigenen Sorgen. So eingebettet in die Natur wird er in eine andere Dimension des Lebens gehoben, schaut von oben mit größerem Verständnis auf sich und alles andere herab und erlebt eine innere Weite und Frieden.
Die sich offenbarenden Abläufe, auf die wir in der Natur bei stiller Betrachtung stoßen, besitzen einen großen Symbolgehalt. Vom Verstand unbemerkt werden davon die tieferen Schichten der Seele berührt und heilsame Impulse angeregt. Wir können Verbundenheit und Sinnhaftigkeit empfinden, eine umfassende zeitlose Ordnung, die in uns Vertrauen erschafft in die verzweigten Wege des Lebens. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen erkannten die Menschen bis in unsere Zeit hinein die Heilsamkeit der Einsamkeit.
In der Einsamkeit sind wir aus unserem Beziehungsgeflecht herausgelöst und somit auch aus dem Netz der auf uns gerichteten mannigfaltigen Erwartungen. Unsere angelernten Denk- und Gefühlsmuster und automatisierten Reaktionen werden durch die Abwesenheit des sozialen Gefüges nicht wie gewohnt getriggert. Denken und Fühlen umgibt in der Einsamkeit ein freier Raum. Die Umstände sind günstig, um dem eigenen Kern näher zu kommen und ihn wahrzunehmen. Unterstützt wird diese durch die uns umgebende Natur, da nur sie der Inbegriff der Ordnung ist. Alles in der Natur ist so, wie es ist, und es ist perfekt. Das berührt das aufgewühlte Herz und beruhigt es.
In der Natur gibt es keine Festhalten, sondern nur ein ständiges Fließen. Auch diese Prinzip übt einen positiven Einfluss auf die menschliche Natur aus. Die Natur ist bei jedem Wetter schön und heilsam. Wenn schönes Wetter uns gut tut, genießen wir es, wenn trübes Wetter uns in dunkle Gefühle herunterzieht, lassen wir auch das gerne zu. Denn wie sollten wir zu tieferen Einsichten kommen, wenn wir nur auf der Oberfläche verbleiben?
Die Natur ist unser Ursprung und unsere Heimatadresse innerhalb der äußeren Welt. Wohl deshalb ist die Natur für uns "Mutter Natur".
aus "Seelische Verarbeitung - Naturgeleitete Wege zur psychischen Gesundheit" von Peter Stapel